Bildungspost 2019-1: In Beziehung lernen - Leben mit Enkelkindern

Großelternschaft im Wandel der Zeit

Großeltern sind (wieder) gefragt und ihre Bedeutung und Wertschätzung im intergeneratio-nellen Miteinander sind gewachsen. Dies gilt familiär für Oma und Opa, wie auch gesell-schaftlich in der neuen Rolle als „soziale Großeltern“. Aktuelle sozialwissenschaftliche Stu-dien zeigen, dass 36 Prozent der Großeltern ihre Enkelkinder (bis 11 Jahre) regelmäßig be-treuen. Davon täglich 4 Prozent mehrmals wöchentlich 17 Prozent und einmal pro Woche 15 Prozent. Hinzu kommen weitere 15 Prozent, die mindestens einmal im Monat Betreuungs-aufgaben übernehmen (1). An vielen Orten unterstützen „Wunschgroßeltern“ Alleinerziehen-de bei der Kindererziehung. Und zunehmend mehr ältere Menschen – mit und ohne eigene Enkelkinder – übernehmen „Großeltern – Patenschaften“ für bedürftige Familien. Sie alle wollen ihr Erfahrungswissen weitergeben und engagieren sich an der Schnittstelle von Bil-dung, Erziehung und Sozialarbeit. Sie übernehmen Verantwortung und schlüpfen in eine neue Rolle. Dabei erleben sie Vertrautes und machen zugleich neue Erfahrungen.

Großeltern und Enkel lernen voneinander, miteinander und übereinander und machen deut-lich, wie wichtig diese Beziehung für das Miteinander der Generationen und das intergenera-tionelle Lernen ist, innerhalb der Familie und in der Zivilgesellschaft.

Zur historischen Entwicklung von Großelternschaft

Merkmale moderner Großelternschaft wie z.B. selbständige Lebensführung mit eigenem Haushalt, eine positiv konnotierte Altersrolle oder Großelternschaft als sinnstiftende Aufgabe für die Zeit des Ruhestands existierten in früheren Zeiten nicht. Sie sind historisch gewach-sen und prägen das Bild heutiger Großelternschaft. In Verbindung mit demografischen und strukturellen Bedingungen wie ansprechende Fitness, Mobilität, höhere Lebenserwartung, gute Verkehrsinfrastruktur sowie neuen Kommunikationsmedien, bilden die genanntenMerkmale den gesellschaftlichen Hintergrund einer modernen Großeltern-Enkel-Beziehung. Erhard Chvojka (2) verweist in seinem Buch „Geschichte der Großelternrollen“ darauf, dass im 16. und 17. Jahrhundert alte Menschen als „alte Eltern“ definiert waren. Erst in der jünge-ren Geschichte etablierte sich das uns bekannte, bürgerliche Leitbild von Großelternschaft. „Die heutzutage zu beobachtende, spezifische Beziehung zwischen Großeltern und Enkel-kindern ist keine anthropologische Konstante, sondern das Resultat ihrer kulturellen und so-zialen Konstituierung im Laufe der letzten etwa zweieinhalb Jahrhunderte“ (3). Was die Da-tierung dieser kulturgeschichtlichen Entwicklung anbelangt, stellt Chvojka fest: „Seit der ers-ten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann schließlich von einer umfassenden gesellschaftlichen Verankerung ursprünglich bürgerlicher Leitbilder und Verhaltensformen von Großelternschaft gesprochen werden“ (4).

Wertewandel und demografischer Wandel – eine generationsübergreifende Herausforderung

Das heutige Generationenverhältnis ist vom gesellschaftlichen Wertewandel wie vom demo-grafischen Wandel stark geprägt. Großelternschaft stellt sich sehr heterogen dar und orien-tiert sich meist an einem aktiven Altersbild. Großmutter und Großvater führen „ihr eigenes Leben“, räumen darin aber ihren Enkelkindern einen besonderen Platz ein. Veränderungen im Miteinander der Generationen vollziehen sich z.B. durch die wachsende Zahl von Patch-work- und Regenbogenfamilien sowie die Zunahme von Single-Haushalten. Große Entfer-nungen zwischen Großeltern und Enkel erschweren den Kontakt und können diese Bezie-hung belasten. Bei Migrationsfamilien kommt zur Entfernung noch die Distanz zwischen den verschiedenen Kulturen hinzu. Für berufstätige Eltern existieren hohe Anforderungen an Fle-xibilität und Mobilität, die eine umfassende Kinderbetreuung erfordern. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt für junge Familien eine besondere Herausforderung dar. VerlässlicheUnterstützung durch ‚Großeltern in Reichweite‘ ist hier nicht nur willkommen, sondern in vie-len Fällen sogar notwendig. Außerdem betreuen Großeltern ihre eigenen Eltern und sind in die Pflege der Urgroßeltern-Generation eingebunden. Dies alles macht deutlich: Das Miteinander der Generationen ist vielfältig, ambivalent, mitunter sehr stressbeladen, aber auch dynamisch und lebendig.

Großeltern und Enkel – eine Beziehung verändert sich

Ohne Großelternschaft idealisieren zu wollen, ist mit der Geburt eines Enkelkindes ein ge-wisser Stolz verbunden; ein Stolz darüber, dass die eigene Familie weiterlebt und die Gene-rationenfolge weitergeführt wird. Enkel ordnen das Verhältnis der Generationen zueinander neu. Aus Kindern werden Eltern, aus Eltern Großeltern und später auch Urgroßeltern. Esentstehen neue Rollen, innerfamiliär wie gesellschaftlich. Großeltern rücken im Lebenskalender eine Stufe weiter und nehmen ihr Alter auf besondere Weise wahr: Enkelkinder führen uns eine große Lebensspanne vor Augen und weisen uns dadurch auf die Endlichkeit unseres Lebens hin.

Das verbreitete Bild des eher blassen Großvaters ist inzwischen überholt. „Großväter sind möglicherweise die am meisten unterschätzte Gruppe in unserer Gesellschaft“, schreibt Eckart Hammer in seinem neuen Buch „Großvater sein“ (5). Längst bringt sich eine neue Generation von Großvätern engagiert in die Enkelbetreuung ein. „Männer, die spüren, wie wichtig und sinnstiftend diese neue Rolle für ihre persönliche Entwicklung im höheren Le-bensalter und für die Lebensabrundung ist“ (6 ). „Aktive Generationen von Großeltern wollen ihre Rolle selbstbestimmt gestalten“ schreibt der Schweizer Sozialwissenschaftler Francois Höpflinger (7). Er fasst aktuelle Befunde aus der Forschung zur Großelternschaft zusammen, drei zentrale Aussagen sind:

  • „Die Großelternrolle genießt heute eine hohe Akzeptanz. Ihre gesellschaftliche Be-deutung bezieht sie aus ihrer Rolle als zusätzliche Bezugsperson und als Betreuung von Kleinkindern, ohne sich in die Erziehung der Enkel einzumischen.“ Persönliche Freiheit und Autonomie wird von jeder Generation als hoher Wert angesehen.
  • „Die Beziehung zwischen den Enkeln und den Großeltern ist heute enger als in frühe-ren Generationen und dies obwohl die junge Familie und die Großeltern ihr Alltagsle-ben weitgehend selbständig organisieren“ (zumeist in getrennten Haushalten).
  • „Großeltern gestalten vor allem die Freizeit der Enkel und bieten ihnen, was in jungen Familien häufig Mangelware ist: Zeit, Gelassenheit und soziale Bindung“ und damit Stabilität und Verlässlichkeit.

Das „sozial idealisierte“ und zugleich „offene Bild“ von Großelternschaft „ erlaubt viele Frei-räume in der konkreten Gestaltung der Beziehung zu Enkelkindern“. „Waren die Beziehun-gen zwischen Großeltern und jüngeren Generationen früher eher formal und autoritär, sind sie heute wärmer und nachsichtiger“, stellt Höpflinger fest.

Großmutter und Großvater – zwei positive Altersrollen

Die Großelternrolle ist eine positiv anerkannte Altersrolle und bei aller Belastung, die sie mit sich bringen kann, mit viel Wertschätzung verbunden. Die Kinderärztin und Buchautorin Ra-chel Naomi Remen schreibt über die Beziehung zu ihrem Großvater: „Wenn mir etwas miss-lungen war, dann brachte er seine Anerkennung zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte.(...).In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: ‚Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?‘ Während meiner ganzen Kindheit rannte ich unablässig die-sen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgend-wie mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte“ (8).

Die Aufgaben als Oma oder Opa können sehr unterschiedlich ausgefüllt werden. Nicht alle Großeltern wollen oder können sich intensiv für die Enkel und die Familien ihrer Kinder en-gagieren. „Von Großeltern wird idealerweise ein positiver Einfluss erwartet, aber da sie gleichzeitig keine Erziehungsverantwortung haben (dürfen), sind sie in der persönlichen Ge-staltung ihrer Beziehung zur jüngsten Generation recht frei“ (9). Aktive Großelternschaft ist Ausdruck eines freiwilligen Engagements. Sie bietet Raum für verbindliches Handeln ebenso wie für kreative Ideen. Seinem Enkelkind z.B. ‚die Welt zu erklären‘, ist nicht nur pädago-gisch wertvoll und sinnstiftend, es ist für Oma und Opa auch mit vielen kleinen, glücklichen Momenten verbunden.

Die „späte Freiheit“ (Leopold Rosenmayer) gilt aber auch für das eigene Älterwerden. Groß-eltern sind frei von alten Pflichten. Sie hatten früher viel Rücksicht zu nehmen und lebten lange in besonderer Verantwortung anderen Menschen gegenüber. Weil sie fest in berufliche und familiäre Strukturen eingebunden waren, mussten sie lernen, mit Routinen zu leben und Begrenzungen zu akzeptieren. Nun gilt es, neue Freiräume für sich selbst zu nutzen und gleichzeitig darauf zu achten, dass die Generationengrenzen gewahrt bleiben. Großeltern sollten nicht erneut in der Elternrolle aufgehen, nicht primär die Enkelkinder erziehen und so ihre eigenen Kinder in Sachen Elternschaft schwächen. In solchen Fällen verlieren alle Ge-nerationen ein Stück ihrer Selbständigkeit. Schließlich will auch das Alter gestaltet und bewältigt werden. Viele Großeltern möchten ihre Freiräume genießen, sich einen ‚kleinen Traum‘ erfüllen, reisen, ihre Hobbies pflegen, den „Faden wieder aufnehmen“, neue Erfahrungen machen und wenn möglich als Paar gemeinsam alt werden. Wenn dieser Spagat gelingt und Großeltern sich für die eigenen Interessen genauso wie für die Belange Andererengagieren, dann können sie gar zum Vorbild für die jungen Eltern werden. Denn zu einer gelingenden Elternschaft gehören neben Humor, Kreativität und Gelassenheit unbedingt auch persönliche Auszeiten und genügend Raum für Liebe und Partnerschaft.

Lernfelder für Großväter und Entwicklungschancen für Enkel

Der Umgang mit Enkeln „bietet all das, was die Altersforschung mit als die vier wichtigsten Alterselixiere identifiziert hat“, schreibt Eckart Hammer und verweist auf die „4 L des Al-ter(n)s“ (10):

  • dem Lernen (Neugier)
  • dem Laufen (Bewegung und Sport)
  • dem Lachen (Humor) und
  • dem Lieben (gute Beziehungen)

Großväter werden mit ihren Enkeln zu neugierigen Entdeckern, zu staunenden Kindern, zu kreativen Bastlern, zu leidenschaftlichen Vorlesern. Enkel erschließen den Großeltern die Welt von morgen, führen sie in die modernen Möglichkeiten der Kontaktpflege und Informationsbeschaffung ein. „Je älter wir werden, desto mehr brauchen wir solche Lernhelfer, um nicht aus der Welt herauszufallen und sie weiterhin zu verstehen“ (11). Umgekehrt können Großväter für ihre Enkel ein „ruhender Pol“ im hektischen Alltag sein, ein „Fels in der Bran-dung“ in stürmischen Zeiten und schließlich auch „Lehrmeister der Vergänglichkeit“ (12). Großeltern haben Zeit zum Zuhören, Zeit zum Spielen, Zeit für Aktivitäten, für die die Eltern keine Zeit haben. Sie können den Enkeln Raum geben, Spielraum, Freiraum, bewertungs-freien Raum und Raum „in dem nicht erzogen wird“ (13), in dem man als Enkel einfach nur sein darf, was man ist.

„Kinder und Jugendliche brauchen jemanden, der einem guten Erwachsenenbildner ähnelt, der sie als gleichwertig anerkennt, mit ihnen gemeinsam Antworten auf ihre Fragen sucht und nicht vergisst, dass eine lebendige, tragfähige Beziehung durch eine ungefähre Symmetrie von Geben und Nehmen wäschst“ (14).

Wenn Großeltern und Enkel Lernpartnerschaften eingehen ist das für beide Seiten ein Ge-winn, weil sie ihre Erfahrungen teilen, gemeinsam Neues entdecken und Verständnis füreinander entwickeln.

(Soziale) Großelternschaft und freiwilliges Engagement

Sozio-demografisch wird das intergenerationelle Miteinander zwischen Großeltern und En-kelkindern durch eine längere gemeinsame Lebensspanne, aber auch durch häufigeres ge-trenntes Wohnen sowie einer niedrigen Geburtenrate geprägt sein. Folglich wird es zuneh-mend mehr Großeltern bei weniger Enkeln geben. Die Gründung von ‚Zweit- bzw. Patch-work-familien‘ verstärkt diese Entwicklung: „Großelternschaft wird damit in Zukunft weniger ‚selbstverständlich‘, was auch die Frage aufwirft, wie fehlende familiale Generationenbezie-hungen in Zukunft durch neue Formen intergenerationelle Kontakte ergänzt werden können“(15).

Viele ältere Menschen − ob Großeltern oder (ungewollt) enkellos − verfügen über Erfah-rungswissen, Zeit und oft auch über eine gute Portion Geduld und Gelassenheit. Auf der an-deren Seite können viele Kinder und Jugendliche solche Menschen gut gebrauchen. Ein normales Familienleben geht mit viel Stress einher und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entpuppt sich für viele Eltern durchaus als schwieriger Spagat und Kraftakt. Da bleibt innerfamiliär so manches auf der Strecke. Erst recht bei sozial schwachen oder wenig inte-grierten Familien. Viele Heranwachsende benötigen Unterstützung etwa durch eine ‚Fami-lien-Patin‘ oder andere Formen ‚sozialer Großelternschaft‘. Gleiches gilt für den Bildungs-, Kultur- und Sozialbereich. Auch hier sind Kinder und Jugendliche auf die Lebenserfahrung älterer Menschen angewiesen, die ihnen als Mentoren, Verbündete und Unterstützer zur Seite stehen. Sei es im Kindergarten als ‚Lese-Patin‘ oder ‚Vorlese-Opa‘, in der Schule als ‚Streitschlichter‘ oder ‚Mediatorin‘ oder in der Ausbildung als ‚Lern-Patin‘ oder ‚Ausbildungs-Pate‘.

Martin Erhardt, Referent für Bildungsarbeit mit älteren Erwachsenen im Fachbereich Erwachsenenbildung und Familienbildung im Zentrum Bildungder EKHN

 

Quellenangaben:

Erhardt, M. (2014): Großelternschaft im Wandel der Zeit. In: Erhardt M., Hoffmann L., Roos H.: Altenarbeit wei-terdenken, Theorien – Konzepte - Praxis; Stuttgart, S. 125 - 131

(1) Seilbeck, C., Langmeyer A. (2018): Ergebnisse der Studie „Generationenübergreifende Zeitverwendung: Großeltern, Eltern, Enkel“, Deutsches Jugendinstitut e.V. , München, S. 32

(2) Chvojka, E. (2003): Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar, S. 62

(3) A.a.O., S. 349

(4) A.a.O., S. 349f.

(5) (6) Hammer, E. (2017): Großvater sein, Stuttgart, S. 12

(7) Höpflinger, F. (2016), Großelternschaft im Wandel – neue Beziehungsmuster in der modernen Gesellschaft. In: Analysen & Argumente, Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung, Ausgabe 209

(8) Remen, R. N. (2010): Aus Liebe zum Leben, Freiburg, S. 30

(9) Höpflinger, F. (2013), Späte Freiheiten. In: Männerforum. Zeitschrift der Männerarbeit der EKD, Nr. 48, S. 24

(10) Hammer, E. (2017), S.64, 65

(11) A.a.O., S. 96

(12) A.a.O., S.64, 65

(13) A.a.O., S. 83, 84

(14) A.a.O, S. 95

(15) Höpflinger F.; Hummel, C.; Hugentobler, V. (2006): Enkelkinder und ihre Großeltern – intergenerationelle Beziehungen im Wandel, Zürich, S. 106