Bildungspost 2019-3: Ein Blick auf Karl Barths frühe Auseinandersetzung mit der religiös-sozialen Bewegung

und am Ende die Frage, ob wir daraus für die politische Bildungsarbeit lernen können ...

von Heike Wilsdorf, Pfarrerin

Als der junge Pfarrer Karl Barth 1911 in das von der zunehmenden Industrialisierung geprägte Schweizer Arbeiterdorf Safenwil kommt, wird er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben mit konkreten Auswirkungen sozialer Klassengegensätzen innerhalb seiner Gemeinde konfrontiert.

In Safenwil beherrschen die Fabrikanten Hüssy und Hochuli das gesellschaftliche Leben. Die Zahlung niedriger Löhne, Kinderarbeit, Alkoholismus und die Wehrlosigkeit der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bilden das Problemfeld. Barth setzt sich intensiv mit diesen Themen auseinander, sowohl praktisch als auch theoretisch. Schnell stellt er sich auf die Seite der Arbeiter, er greift die soziale Frage in seinen Predigten auf, setzt sich theologisch mit der Frage nach der Durchsetzung von Gerechtigkeit für diese Welt auseinander und wird ganz praktisch Mitglied in einem Verein gegen Alkoholkonsum und engagiert sich gegen Spielkasinos.

Auseinandersetzungen mit den Fabrikanten und Ärger mit einigen Gemeindemitgliedern bleiben nicht aus. So kritisiert er öffentlich das wachsende Privateigentum einiger weniger und sieht im Sozialismus als proletarische Bewegung die Analogie zur Botschaft Jesu, die sich an Arme und Unterdrückte wende.

Die Auseinandersetzung mit dem „religiösen Sozialismus“ in der Schweiz, namentlich mit den Theologen Hermann Kutter und Leonhard Ragaz, waren mit Sicherheit prägend für den jungen Karl Barth, wie für viele Schweizer Pfarrer. Den frühsten Hinweis auf eine Affinität Barthscher Gedanken zu religiös-sozialistischen Ideen gibt der Aufsatz: „Jesus Christus und die soziale Bewegung“ von 1911. Barth behauptet hier: „Der rechte Sozialismus ist das rechte Christentum in unserer Zeit.“1 Diese Aussage kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit als eine Aufnahme der von Ragaz vertretenen Position interpretieren, „dass die Kirche zum Sozialismus als zu einer vorlaufenden Erscheinung des Reiches Gottes Stellung zu nehmen habe“2, wie Barth später zusammenfasst. Im selben Aufsatz schließt sich Barth auch Kutter an, als er schreibt: „Jesus ist die soziale Bewegung und die soziale Bewegung ist Jesus in der Gegenwart.“3

So hat Barth in seinen ersten Jahren als Gemeindepfarrer tatsächlich die Hoffnung, dass sich im Sozialismus etwas von dem verwirkliche, was mit Reich Gottes gemeint sei, und er hält die sozialistischen Ideen für ein „wichtiges Stück Verwirklichung“4 des Evangeliums. Geprägt ist Barths Theologie dabei auch von Christoph Blumhardt, einem deutschen Theologen, für den die Reich-Gottes-Erwartung zentral ist. Blumhardt vertritt die These, dass Gott durch die Sozialdemokratie handeln würde, lehnt aber entschieden die Auffassung ab, dass das Reich Gottes durch ein sozialistisches Reich ersetzt werden könne. Er erwartet das Reich Gottes vielmehr unmittelbar (und im Jenseits zugleich).

Barths Haltung ändert sich schrittweise in den nächsten Jahren. Immer wieder wägt er ab, ringt damit, was das Reich Gottes in dieser Welt bedeute. So diskutiert er wieder und wieder mit seinen vertrauten Freund Eduard Thurneysen in langen Briefwechseln die Bedeutung der Sozialdemokratie und ihrer Forderung nach mehr Gerechtigkeit für die Theologie und Predigtausarbeitung.5

Und 1917 schreibt er dann in einem Brief an Thurneysen, dass man von den Überzeugungen des L. Ragaz Abstand nehmen müsse.

Was war geschehen?
Mit Einbruch des ersten Weltkrieges kommt das Entsetzen über die Unterstützung, die der Krieg insbesondere bei deutschen Theologen findet und über die kriegsbegeisterten Sozialisten. Für Barth wird es nun elementar wichtig festzuhalten, dass der Sozialismus ganz zur Welt gehöre und keineswegs das Reich Gottes selbst bringe, sondern im besten möglichen Fall eine menschliche Spiegelung des Reich Gottes sei.6 Auch wenn Barth die Verbindung von religiös und sozialistisch mehr und mehr ablehnt, tritt er doch 1915 der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz bei.

Für Barth wird es wichtig zu unterscheiden: Die politische Idee des Sozialismus, die er nach wie vor für richtig hält, und die Rede vom Reich Gottes, die er streng als Lebendigkeit der Herrschaft Gottes interpretiert, und die – und auch das neu – nicht zu verwechseln sei mit einer von Menschen gelebten Religion.7

Barth ist auf der Suche nach eigenen, neuen theologischen Wegen. Seine Suche geht mit dem Studium des Paulusbriefes an die Römer einher und in seinem 1918 fertig gestellten Kommentar zum Römerbrief kommt es zur endgültigen Zurückweisung der von Ragaz erhobenen Forderung, dass Sozialismus religiöser Sozialismus sein müsse. Er hält diese Art der religiösen Legitimierung des Sozialismus sogar für einen „Verrat am Evangelium“ und lehnt nun die Verbindung von „religiös-sozial“ grundsätzlich ab.8

Kurz nach Kriegsende erscheint Barths Werk „Der Römerbrief“. Hier stellt er klar, dass das Reich Gottes allein und ausschließlich von Gott komme, Religion aber gehe vom Menschen aus.

„Kirche und Mission, persönliche Gesinnungstüchtigkeit und Moralität, Pazifismus und Sozialdemokratie vertreten nicht das Reich Gottes, sondern in neuen Formen das alte Reich der Menschen“.9 Der Kommentar zum Römerbrief ist neben aller Kulturkritik vor allem die Markierung des neuen Gedanken, dass Gott als der „Ganz andere“ der Welt gegenüberstehe. „Gott der ganz andere“, dieser neue (und radikale) Blick auf Gott seht auch im Mittelpunkt des Tambacher10 Vortrags „Der Christ in der Gesellschaft“. Hier entfaltet Barth eine ungewohnt neue Sicht auf das Verhältnis von Christentum und Politik, Kirche und Gesellschaft. Sehr kühn interpretiert er das ihm gestellte Thema: „Der Christ – wir sind uns wohl  einig, dass damit nicht die Christen gemeint sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen (…). Der Christ ist der Christus.“11 Wo aber ist dieser Christus in der Gesellschaft? Barth stellt zwei Größen nebeneinander, die keine „offenen Fenster“ zueinander hätten. Das Göttliche stehe der Welt als kritisches Nein gegenüber. Das Göttliche sei das Gericht, die Krisis der Gesellschaft. Hatte die liberale Theologie ihr Bestreben noch darin gesehen, Gott und die Welt so zu vermitteln, dass Kultur und Religion sich ergänzen (und nach Barth waren die religiös-sozialen Bewegungen überwiegend bestrebt gewesen, Gott gerade auch im Bereich der sozialen Konflikte aussagbar und erfahrbar zu machen), so verurteilt Barth diese Versuche nun als Säkularisierung und widerspricht rigoros allen Arten einem solchen „Bindestrich-Christentum“, wie er es nennt. In Bindestrich Kombinationen wie „christlich-sozial“, „evangelisch-sozial“, „religiös-sozial“ sieht er gefährliche Kurzschlüsse.12 Dem Göttlichen würde so seine eigentliche Qualität, seine Einzigartigkeit genommen.

Nun ist es nicht so, dass Barth Gott und Mensch, Gott und Welt völlig voneinander trennt. Vielmehr verweist er ganz auf die Menschwerdung Gottes, auf die Offenbarung, die sich allein in Christus ereignet habe. Ein Ja zur Welt, könne von daher nur von Gott her gesprochen werden. Aber die Aufgabe eines jeden Menschen sei dennoch, alles Seiende in Zusammenhang mit Gott zu sehen, sozusagen aus Gottes Perspektive, wohl wissend, dass das eigentlich nicht möglich sei. Aber „indem wir uns in Gott finden, finden wir uns auch in der Aufgabe, ihn in der Welt, wie sie ist und nicht in einer falschen transzendenten Traumwelt zu bejahen.“13

Nur durch die Bewegung von Gott her, auf die Menschen zu, sei der Mensch in das Wunder der Offenbarung Gottes eingeschlossen. Alles gehe von Gott aus, es sei Gnade. Bestenfalls sei gegenüber der Gottesoffenbarung „das sogenannte religiöse Erlebnis (…) eine durchaus abgeleitete, sekundäre, gebrochene Form des Göttlichen“14.

Ganz Blumhardt folgend verweist Barth auf das Reich Gottes, das mit Jesus nahe gekommen sei und den Menschen die Offenbarung und gerade keine Religion brachte. Und um nicht der Gefahr zu erliegen, dass nicht Gott, sondern die Geschichte zum Thema der Theologie werde, stellt Barth der Kontinuität die Analogie gegenüber. Geschichte ist nicht die Offenbarung der Wirklichkeit Gottes in historischen Ereignissen, sondern mit Christus beginnt die Gottesgeschichte, so Barth, d.h. die Bewegung, die nicht das „Tun des Menschen, sondern das Tun Gottes im Menschen“15 sei. Nur unter der Krisis wird das Ziel der Geschichte offenbar, so Barth, es ist die „Summe der Geschichte Gottes in der Geschichte, in ihrer uns verhüllten (…) Herrlichkeit“16, es ist das Reich Gottes. So lenkt Barth den Blick weg von der Suche nach dem Sinn allen Dasein in der Geschichte, weg von der Offenbarung in der Sozialdemokratie (oder irgendeiner anderen politischen Richtung), weg auch von der Suche nach dem Sinn in der Natur oder einer historischen oder empirischen Erscheinung hin ganz zur Bewegung von Gott her. Barths Tambacher Vortrag ist so nicht nur eine theologische Kritik am religiösen Sozialismus, den darin enthaltene Vorwurf einer „natürlichen Theologie“ erhebt er später mit seiner „Wort Gottes Theologie“ auch und entschieden gegen die Deutschen Christen.

Barths Haltung änderte nichts daran, dass er beispielsweise 1931 (nun in Deutschland) wiederum der SPD beitritt, weil er zu der Zeit nur in ihr die angemessene politische Antworten für die Erfordernisse der Welt erkennt. Für ihn ist das eine reine praktisch-politische Entscheidung, theologisch nicht zu begründen. Zugehörigkeiten zu Parteien sind und bleiben für Barth keine Bekenntnisfrage - Bekenntnisse gelten Gott allein.

In der Evangelischen Erwachsenenbildung im Jahr 2019 erinnern im Rahmen des vom reformierten Bund ausgerufenen Karl-Barth-Jahres viele Veranstaltungen an den Theologen, der als einer der bedeutendsten theologischen Denker des 20. Jahrhunderts gilt.

Karl Barths Denken stellt dabei weiterhin wichtige Fragen an die Theologie: an die Art und Weise wie wir von Gott überhaupt reden können, wie wir Gott und Welt zusammendenken können und wie wir im 21. Jahrhundert die Gottesfrage angemessen im öffentlichen Raum zur Geltung bringen können. Auch die Überlegung, was es für eine kleiner werdende Kirche bedeuten kann, wenn wir die „Krise“ der Kirche mit der „Krisis“, von der Barth spricht, in Zusammenhang bringen würden, kann interessante Perspektive eröffnen.17

Karl Barths frühes Ringen mit dem sogenannten Religiösen Sozialismus ist aber auch für den Bereich der politischen Bildung in evangelischer Trägerschaft von Interesse. Barth Ringen um die richtigen Bezüge von Gott und Welt, politischen und theologischen Einsichten steht beispielhaft für das ernste Bemühen immer wieder neuer Vergewisserung:

Wo liegt eigentlich unser Auftrag in der politischen Bildung? Welche Haltung nehmen wir dabei ein, ohne zu indoktrinieren? Wie begegnen wir fundamentalistischem Denken, wenn wir uns darauf einlassen, wenigsten zu versuchen, die Welt aus der Perspektive Gottes zu sehen (im Bewusstsein der unmöglichen Möglichkeit dieser Aufgabe!)? Wie können wir mit unserer Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger zu einer gerechteren Welt beitragen? Was heißt es, Menschen zur mündigen Beurteilung der Geschichte und der politisch-sozialen Lage zu unterstützen, ohne dies mit der Gottesfrage zu vermischen? Und: Wann heißt es tatsächlich sich zu bekennen, und zu was und warum; an welchem Ort, zu welchem Anlass und auf welcher Grundlage?

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1Zitiert nach Fridrich Wilhelm Marquart, Erster Bericht über Karl Barths „Sozialistische Reden“. In: Ders., Verwegenheiten, Theologische Stücke aus Berlin, München 3. Aufl. 1985., 486.

2Karl Barth, Die Lehre von Gottes Wort. Die kirchliche Dogmatik Bd. I,1, Zürich 11. Auflage (zuerst München 1932), 75.

3Zitiert nach Fridrich Wilhelm Marquart, aaO., 486.

4Karl Barth, Evangelium und Sozialismus, Februar 2014, Zitiert nach Fridrich Wilhelm Marquart, aaO., 473.

5Eindrücklich beschreibt diese Zeit Christiane Tietz in ihrer 2018 erschienen Biographie: Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch.

6Vergleiche hierzu: Christiane Tietz, Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch, München 2. Auflage, 93.

7Eberhardt Jüngel, Einführung in Leben und Werk Karl Barths. In: Ders., Barth - Studien, Gütersloh, 1982, 31.

8Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung). In: Karl Barth Gesamtausgabe, II Akademische Werke, hrsg. von H. Schmidt, Zürich 1985, 521.

9Karl Barth, aao,. zitieret nach Christiane Tietz, Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch, München 2. Auflage,105.

10Am 25. September 1919 hielt Karl Barth auf der religiös-sozialen Konferenz in Tambach den Vortrag, mit dem er in Deutschland bekannt wurde.

11Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, Eine Tambacher Rede, zitiert nach dem Wieder Abdruck in AdT  I, Würzburg 1920, 3.

12Vgl. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, aaO., 5.

13Zitiert nach Christiane Tietz, Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch, München 2. Auflage, 111.

14Vgl. Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, aaO., 11.

15Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, aaO., 12f.

16Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, aaO., 34.

17Vgl. Peter Scherle. Gottes Design. Anknüpfung an Karl Barths Theologie im 21. Jahrhundert. In:. Zeitzeichen, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft. 20. Jahrgang Juni 2019, 48ff.

Literaturempfehlungen:

Mathias Freudenberg, Georg Plasger (Hg.), Barth-lesen, Zentrale Texte seines Denkens, Zürich 2019.

Ralf Frisch, Alles gut, Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat, Zürich 2018.

Peter Scherle, Gottes Design, Anknüpfungen an Karl Barths Theologie im 21. Jahrhundert. In: Zeitzeichen, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 20. Jahrgang Juni 2019, 48ff.

Werner Thiede (Hg.), Karl Barths Theologie der Krise heute, Transfer-Versuche zum 50. Todestag, Leipzig 2018.

Christiane Tietz, Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch, München 2. Auflage 2019.

Informationen und Veranstaltungshinweise zum Karl Barth Jahr:

https://www.reformiert-info.de/Karl_Barth_Jahr_2019-20798-0-0-1.html